Gespannt warten Abiturienten im voll besetzten Großen Haus des Staatstheaters auf den Autor ihrer Pflichtlektüre im Fach Englisch. Tom Franklin befindet sich auf einer Lesereise durch Baden-Württemberg und wundert sich ein wenig, woher in Deutschland plötzlich das große Interesse an seinem Südstaatenkrimi kommt. Vielleicht liegt es an den beiden jugendlichen Helden, deren High School Pausengespräche, first dates und Probleme mit den Eltern trotz der geographischen Distanz nahe bei den Erlebnissen des jugendlichen Publikums sind. Sympathisch wirkt der Amerikaner, der in seinem bunten Hemd und Jeans auf der Bühne sitzt, locker und bodenständig. Er beginnt damit, einige Szenen auf Englisch vorzulesen. Larry ist ein weißer Jugendlicher, der in der fiktiven Kleinstadt Chabot in Mississippi in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts aufwächst.
Sein einziger Freund ist Silas, ein afroamerikanischer Junge, der mit seiner Mutter in einer schäbigen Hütte im Wald lebt. Die Freundschaft muss geheim bleiben, denn nicht nur Larrys rassistischer Vater wäre dagegen. Diesem Geheimnis und dem mysteriösen Verschwinden von Cindy sieht sich Silas erneut gegenüber, als er 25 Jahre später als Detective nach Chabot zurückkehrt, um einen Fall aufzuklären, der ihn auch mit seinen eigenen Schuldgefühlen konfrontiert. Crooked Letter, Crooked Letter, so nennen Kinder in Mississippi den Buchstaben „s“, der immerhin viermal im Namen des Bundesstaats vorkommt, ist der Roman, den die Abiturient*innen für das Schwerpunktthema „Ambiguity of Belonging“ lesen.
Es geht nicht nur um den Rassismus, der insbesondere in den Südstaaten der USA latent vorhanden ist, sondern auch um die Frage, wo wir hingehören. Der in den Südstaaten geborene Autor Tom Franklin weiß, wie es ist, wenn man sich zugehörig und gleichzeitig nicht zugehörig fühlt. Das Bedürfnis, zu einer Gruppe, zu einer Familie, zu einem Ort oder zu einer Nation zu gehören, ist nicht immer eindeutig, sondern oft von Widersprüchen geprägt. In seinem Kriminalroman verarbeitet Franklin auch autobiografische Erlebnisse, wie die Schülerinnen und Schüler aus der K2 bei der Lesung einige Monate vor ihrem Abitur 2019 erfahren. Die Stelle, in der die Hauptfigur Larry sich den Buick des Vaters leiht, um seinen Schwarm Cindy ins Autokino zu chauffieren, geht den anwesenden Schüler*innen der Englischkurse des Hilda-Gymnasiums und ihren Lehrer*innen besonders nahe. Cindy benutzt den Außenseiter nur, um sich heimlich mit ihrem Freund zu treffen. Die Szene wird noch eindrücklicher, als das Publikum erfährt, dass der Autor das so ähnlich selbst erlebt hat. Ein Außenseiter ist der inzwischen 56-jährige Schriftsteller schon lange nicht mehr. Der sympathische Amerikaner hat es geschafft, mit der ambiguity of belonging zu leben und liebt, das wird bei der Lesung deutlich, seine Südstaatenheimat mit all ihren Herausforderungen. Die Abiturienten wiederum finden den Autor so sympathisch, dass sie Schlange stehen, um ein Selfie mit Tom Franklin zu machen, und ihn bitten, eine Widmung in ihre Lektüren zu schreiben. Thank you!
Autorin: Sonja Kinck